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Achtsamkeit

Hofbauer Stefan am 26.3.2014
Mi 26 Mär „Das Gewahrseinskontinuum ist für die Gestalttherapie das, was die freie Assoziation für die Psychoanalyse ist: Anfang und Ende der Therapie zugleich.“ (Naranjo, 1993)

Die Fähigkeit zur Erfahrung der Fülle und Tiefe im Hier und Jetzt gilt als das Ziel der Gestalttherapie. In diesem Punkt weist sie gewisse Ähnlichkeiten mit meditativer Praxis auf, insofern man sagen könnte, dass Gestalttherapie so etwas wie Meditation mit Verbalisierung ist. Anders ausgedrückt: Gestalttherapie ist Achtsamkeit plus Ausdruck.

Die meisten Menschen kommen mit ganz konkreten Symptomen in Psychotherapie, Symptomen, die sie häufig als die „einzige Schwierigkeit“ in ihrem Leben betrachten, wohingegen sonst alles in Ordnung wäre. Oftmals sind sie dann der Meinung, dass sie nur dieses eine Symptom loswerden müssten und dann wäre alles wieder gut. Nicht selten besteht auch noch die Erwartung, dass das ja ganz schnell gehen müsste.

Die Erwartung ist verständlich und nur allzu menschlich. Schließlich gehen wir mit der gleichen Erwartung zum Allgemeinmediziner. Wenn etwa unsere Nase läuft und wir leichtes Fieber haben, glauben wir, nur ein Antibiotikum zu brauchen und nach einer Woche wieder gesund zu sein. Das geht so weit, dass für viele Menschen derjenige als schlechter Arzt gilt, der nicht automatisch Antibiotika verschreibt und uns stattdessen erklären möchte, dass dieser Infekt viralen Ursprungs ist und ein Antibiotikum da nicht helfen würde.

In genau der gleichen Weise möchten Menschen im psychosozialen Bereich schnelle Ergebnisse, weshalb sie nicht selten unseriös arbeitende Energetiker oder Lebensberater bevorzugen, die schnelle Ergebnisse ohne eigene Anstrengung versprechen. Um nicht falsch verstanden zu werden: ich habe persönlich großen Respekt vor jedem Helfer, gleich welcher Provenienz, solange er sich an ethische Standards hält. Jene Personen aber, die Menschen versprechen, dass sie ihnen jede Anstrengung abnähmen und die womöglich gar von medizinischen Untersuchungen und Eingriffen abraten, halte ich für gefährlich. Abgesehen davon, dass letzteres sogar strafbar ist.

Ein Symptom heißt so, weil es Ausdruck eines Ungleichgewichts ist, das tiefer geht. Insbesondere systemische Psychotherapeuten wissen sehr genau, dass das zum Verschwinden bringen eines Symptoms oft sehr rasch im Auftauchen eines neuen Symptoms resultiert. Bisweilen geschieht das sogar innerhalb von Familiensystemen, sodass unser Klient symptomfrei wird, während ein anderes Familienmitglied plötzlich Beschwerden entwickelt.

Was also ist zu tun? Zunächst gilt es zu verstehen, dass der Glaube an die Problematik dieses einen Symptoms eine Illusion ist. Dieses eine Symptom ist nicht das Problem, sondern es ist meine (kreative) Lösung, die ich für eine Inbalance in meiner Psyche gefunden habe. Und meine Psyche hätte ebenso gut jede andere Lösung finden können.

Ob jetzt Rauchen, Schlaflosigkeit, zwanghaftes Surfen im Internet oder anderes die Lösung ist, spielt keine Rolle. Es gilt, die Ursache für dieses Symptom zu finden bzw. noch präziser, Verantwortung für dieses Symptom zu übernehmen. Dies geschieht sinnvollerweise nicht, indem ich frage: „Warum mache ich das?“, sondern indem ich frage: „Wie mache ich das?“, „Was mache ich da?“, „Bei welcher Gelegenheit mache ich das?“

Ich selbst bin der Verursacher dieses Symptoms, der Erfinder, der Schöpfer - es ist meine kreative Lösung. Und da es meine kreative Lösung ist, ist es auch unklug, das Symptom loswerden zu wollen. Der Leser wird sich jetzt zu Recht fragen: Wozu sollte ich dann in Psychotherapie gehen, wenn ich nicht meine Symptome loswerden wollte? Und die Antwort mag überraschen: weil es in der Psychotherapie nicht darum geht, etwas loszuwerden, sondern etwas dazuzugewinnen, nämlich Bewusstheit, Verantwortlichkeit, Achtsamkeit, Kreativität und neue, bessere Lösungen.

Wenn ich mich mit aller Kraft gegen ein Symptom wehre, dann erzeuge ich eine Spaltung in meiner Psyche zwischen ICH und NICHT-ICH (=Symptom). Das ist eine Spaltung, die irreal ist und die lediglich dazu führt, dass ich meine psychische Energie falsch einsetze, nämlich für den Kampf gegen vermeintliche Nicht-Ich-Anteile. Wogegen ich mich wehre, das bleibt bestehen!

Nehmen Sie das Bild eines Druckkochtopfes, der üblicherweise ein Ventil hat, wo der Dampf entweichen kann. Halte ich dieses Ventil fest geschlossen, wird mir der ganze Kochtopf irgendwann um die Ohren fliegen. Der Druck ist das Primäre, das Symptom das Sekundäre, die von mir gefundene Lösung.

Angenommen, meine Lösung heißt Nikotinsucht, dann wäre zu fragen, an welchen Punkten meines Lebens, bei welcher Gelegenheit ich zur Zigarette greife. Was geht mir da gerade durch den Kopf? Welcher Art ist das Ungleichgewicht? Was fühle ich? Wie fühlt sich mein Körper an? Wie atme ich gerade? Und der Versuch, bei dieser Gelegenheit absolut bewusst zu bleiben, hieße MIT der Energie zu gehen.

Versuchen Sie, Ihre Zigarette so zu rauchen, als hätten Sie das noch nie zuvor in Ihrem Leben getan. Wie fühlt sich die Packung an, wie ist es, die Zigarette herauszunehmen? Welche Gefühle und Gedanken gehen Ihnen gerade jetzt durch den Kopf, wie spüren Sie Ihren Körper und Ihren Atem? Was sehen und hören Sie in diesem Moment? Was empfinden Sie, während Sie die Zigarette anzünden? Versuchen Sie, diesen Moment so zu genießen, als wäre es das größte Glück, das Ihnen je wiederfahren ist.

Diese Strategie der „frischen Wahrnehmung“ lässt sich übrigens auch auf jede andere Lebenssituation anwenden. Versuchen Sie einmal, Ihre Partnerin/Ihren Partner so zu betrachten, als hätten Sie sie/ihn noch nie zuvor gesehen, als hätten Sie noch nie ihren/seinen Worten gelauscht. Versuchen Sie zu entdecken, was Sie in ihrem/seinem Gesicht noch nie gesehen haben. Und bleiben Sie vor allem aufmerksam für alles, was in Ihnen vorgeht, die Eindrücke Ihrer fünf Sinne ebenso wie die damit verbundenen Gedanken und Gefühle.

All diese Gefühle und Gedanken sind Ihre Gefühle, sind Ihre Schöpfung, sind Ihre Verantwortung. Niemand sonst hat das für Sie getan, gedacht oder gefühlt. Da sind nicht zwei: Sie und das ominöse ES des Symptoms. Sie erzeugen die Schlaflosigkeit! Und indem Sie sie loszuwerden versuchen als gehöre sie nicht zu Ihnen, verstärken Sie sie. Versuchen Sie es stattdessen mit Neugier, mit Aufmerksamkeit, mit kindlicher Entdeckerfreude. Zum Beispiel: „So also fühlt es sich an, wenn ich mich am Schlafen hindere!“, „Interessant, welche Gedanken jetzt in mir auftauchen!“, „Spannend, wie ich mich alle zwei Minuten von der einen auf die andere Seite wälze!“, „Diese Gefühle also mache ich mir gerade!“, ...

Im Grunde bedeutet das auch, sich mit allen Facetten genauso anzunehmen wie wir sind. Indem wir es schaffen, uns für das Rauchen, für die Schlaflosigkeit, für den Libidoverlust vollständig anzunehmen und zu lieben, verschwinden die Symptome. Das hat nichts mit Magie oder Esoterik zu tun, sondern einfach damit, dass die Energie nicht mehr dafür verwendet wird, uns gegen uns selbst zu wehren. Sie steht jetzt wieder vollständig zur Verfügung und kann uns dazu dienen, andere Lösungen und bessere zu finden.

Wenn ich mir vollständig bewusst bin, was meine Wahrnehmung gerade ist, welches meine Gefühle und Gedanken sind, hier und jetzt, dann weiß ich klarer, was ich jetzt will und brauche und kann es mir direkt verschaffen, ohne Umweg über ein Symptom. Und dann wird mir beispielsweise klar, dass ich mich gerade über einen Kollegen geärgert habe, das jedoch nicht zum Ausdruck gebracht habe und geradewegs zur Zigarette greife, um diese Spannung loszuwerden. Oder mir wird klar, dass dieser Tag jede Menge „unfinished business“ beinhaltete, nicht ausgesprochene Konflikte, unverstandene Arbeitsanweisungen, offene Gesprächssituationen und Fragen, etc., die mich jetzt am Schlafen hindern. Erst indem ich diese Gestalten schließe, werde ich Entspannung finden, die mir guten Schlaf ermöglicht.

Mich selbst ganz achtsam und bewusst wahrzunehmen ist die Basis dafür, mich frei und ungehindert ausdrücken zu können. Und dann brauche ich immer weniger Symptome und andere Umwege.
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Naranjo, Claudio (1993). Gestalt: Präsenz – Gewahrsein – Verantwortung. Grundhaltung und Praxis einer lebendigen Therapie. Arbor Verlag.

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Achtsamkeit Gestalttherapie Gewahrsamkeit
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